Meistens wird eine Polyglobulie im Rahmen einer Routineblutuntersuchung festgestellt, lange bevor Beschwerden in Erscheinung treten. Auch bei Symptomen wie Angina pectoris, chronischen Kopfschmerzen, Schwindel, Tinnitus oder Sehstörungen sollte an eine Hyperviskositätsproblematik gedacht werden. Im Zweifelsfall erfolgt – nach Ausschluss eines Notfalls – eine entsprechende Labordiagnostik.
Unterschieden wird eine relative von einer absoluten Polyglobulie. Die relative oder Pseudopolyglobulie bezeichnet eine Erhöhung der Blutdicke durch Flüssigkeitsverlust zum Beispiel im Zuge von Diarrhöen, Erbrechen oder zu starker Entwässerung. Auch eine verminderte Trinkmenge kann zu einer Pseudopolyglobulie führen (anamnestisch und fremdanamnestisch erfragen!).
Die absolute Polyglobulie wird durch eine vermehrte Erythrozytenproduktion ausgelöst und in eine primäre und sekundäre Form unterteilt. Erstere beruht auf einer vom Knochenmark ausgehenden, gesteigerten Produktion von Erythrozyten. Am häufigsten tritt in diesem Rahmen die Polycythaemia vera auf.
Die sekundäre Polyglobulie entsteht als Reaktion des Knochenmarks auf eine hormonelle Aktivierung. Diese ist am häufigsten durch Sauerstoffmangel bedingt – man spricht dann auch von reaktiver Polyglobulie –, zum Beispiel infolge von Lungenerkrankungen (COPD, Asthma Bronchiale etc.), Höhenaufenthalten, angeborenen Herzerkrankungen oder Rauchen. Diese führen zu einer gesteigerten Erythropoetinausschüttung in der Niere. Dies gilt auch für eine Nierenarterienstenose mit isoliertem Sauerstoffmangel in der Niere. Zu den weiteren häufigen Ursachen sekundärer Polyglobulien zählen:
- Nierenerkrankungen, die zu einer erhöhten Erythropoetinausschüttung führen (zum Beispiel Zysten, Tumoren, membranöse Glomerulonephritis, Nierentransplantation)
- Tumoren, die eigenständig ektop (außerhalb der Niere)Erythropoetin freisetzen sowie ein mit Tumoren einhergehendes paraneoplastisches Syndrom
- direkte Erythropoetinsubstitution zum Beispiel durch Doping („EPO“) oder therapeutisch bei Leukämien oder Niereninsuffizienz
- Gabe von Blutkonserven zum Beispiel bei Blutdoping
- erhöhte Testosteron- oder Kortisolausschüttung
Somit sind diverse Ursachen, Krankheitsbilder und Organsysteme bei der Abklärung einer Polyglobulie zu berücksichtigen.
Tabelle 1
Laborwerte bei verschiedenen Formen der Polyglobulie
Parameter | primäre Polyglobulie | sekundäre Polyglobulie | Pseudopolyglobulie |
---|---|---|---|
Hämatokrit | ↑ | ↑ | ↑ |
Thrombozyten | ↑ | 0 | 0 / ↓ |
Leukozyten (vor allem Granulozyten) | ↑ | 0 | 0 / ↓ |
Erythropoetin | 0 / ↓ | ↑ | 0 |
Sauerstoffpartialdruck (pO2) | 0 | 0 / ↓ | 0 |
JAK-2-Mutation | + | – | – |
Die Differenzialdiagnostik besteht zunächst einmal in der Erhebung weiterer Laborbefunde. Dazu gehören ein kleines Blutbild, die Erythropoetinkonzentration, der Sauerstoffpartialdruck, eine JAK2-Mutationsanalyse sowie eventuell eine Hämoglobin-Elektrophorese. Eine weitere diagnostische Option stellt die nuklearmedizinische Bestimmung der Erythrozytenmasse dar. Diese wird allerdings in der Praxis kaum noch angewendet.
Wenn der Laborbefund auf eine primäre Polyglobulie hindeutet (siehe Tabelle), folgt im Anschluss eine Abdomensonografie (Splenomegalie) sowie eine Knochenmarkbiopsie (Zeichen erhöhter Erythropoese, Granulopoese und Megakaryopoese).
Für die Diagnose einer Polycythaemia vera als häufigster primärer Form gelten laut WHO die drei Hauptkriterien:
- Erhöhung des Hämatokrits auf über 49 % bei Männern oder über 48 % bei Frauen
- Vermehrung aller drei Zelllinien im Knochenmark, also Steigerung der Erythropoese, der Granulopoese ( Leukozyten↑) und der Megakaryopoese (Thrombozyten↑)
- JAK-2-Mutation (bekannte Punktmutation, die bei vielen myeloproliferativen Erkrankungen auftritt)
- Als Nebenkriterium gilt ein erniedrigter Erythropoetinspiegel.
Zur Diagnosestellung müssen entweder alle drei Hauptkriterien oder die ersten beiden Hauptkriterien und das Nebenkriterium erfüllt sein.
Klinisch zeigt sich bei Patienten mit einer Polycythaemia vera häufig ein durch Wasserkontakt hervorgerufener Juckreiz (aquagener Pruritus). Auch Hyperviskositätssymptome wie Kopfschmerzen oder Schwindel sowie arterielle und/oder venöse Thrombosen sind möglich.
Merke

Abb. 2 Algorithmus zum diagnostischen Vorgehen bei Polyglobulie. Der abgebildete Algorithmus stellt mögliche Schritte der Diagnosestellung dar. Ausgehend von einer Erythrozytose wird zunächst anamnestisch nach Hinweisen auf eine reaktive Ursache gesucht. Wenn diese verneint wird, folgen eine Genmutationsanalyse und je nach Ergebnis die weiteren Stufen des Ereignisbaums. Abkürzungen: PV: Polycythaemia vera, MPN: Myeloproliferative Neoplasien, EPO: Erythropoetin.
Für eine primäre Polyglobulie sehen auch die ärztlichen AMWF-Leitlinien regelmäßige Aderlässe von 300–500 ml 1- bis 2-mal pro Woche vor sowie niedrig dosiert ASS (Cave: einzelne Polycythaemia-vera-Patienten haben ein erhöhtes Blutungsrisiko, daher ist auf Blutungskomplikationen zu achten). Eine medikamentöse Therapie mit Zytostatika findet nur in seltenen Fällen statt, wenn durch eine Aderlasstherapie keine ausreichende Reduktion des Hämatokrits zu erreichen ist oder es trotz ASS-Gabe zu Thrombosen kommt.
Bei der sekundären Polyglobulie steht die Therapie der Grunderkrankung im Vordergrund. Ist dies nicht zeitnah oder im erforderlichen Umfang möglich, ist auch hier eine Aderlasstherapie zur Senkung des Hämatokrits indiziert. Im Fall einer Pseudopolyglobulie erfolgt lediglich ein Flüssigkeitsausgleich durch Steigerung der Trinkmenge oder Infusion.
Merke
Kontraindiziert ist die Aderlasstherapie bei einer reaktiven Polyglobulie, also immer dann, wenn ein Sauerstoffmangel vorliegt. Initial käme es zwar dabei durch die Verminderung der Hyperviskosität zu einer Verbesserung der Symptome. Durch die daraus folgende Reduktion der Erythrozyten stünden allerdings auch weniger Sauerstoffträger zur Verfügung. Die Sauerstoffversorgung würde sich damit weiter verschlechtern. Daher sollten alle Bemühungen auf die Beseitigung der Ursache gerichtet sein. Dies kann zum Beispiel bei angeborener Herzerkrankung den operativen Verschluss eines Septumdefekts bedeuten, das Meiden von Triggerfaktoren bei Asthma bronchiale oder die Beendigung des Tabakkonsums bei COPD. Auch Höhenaufenthalte sollten bei Sauerstoffmangel vermieden werden.
Merke
Anhand der folgenden drei Fallbeispiele lässt sich gut veranschaulichen, wie Anamnese und Diagnostik ineinandergreifen, um bei Verdacht auf eine Polyglobulie zu eruieren, ob und in welcher Form die Erkrankung vorliegt.
Pseudopolyglobulie durch Alkoholkonsum
Patient, 79, stellte sich eigentlich zu einer naturheilkundlichen Begleittherapie einer bekannten arteriellen Hypertonie und Herzrhythmusstörung vor. Anamnestisch berichtete er über einen schon länger bestehenden, gesteigerten Alkoholkonsum. Die Messung zeigte Hämatokritwerte von über 50 % (52,5 % arteriell, 53,1 % venös, siehe Ab- schnitt Doppel-Hämatokrit). Eine explizit diuretische Medikation verneinte er.
Hoher Alkoholkonsum vermindert die ADH- Sekretion (Antidiuretisches Hormon) und steigert somit, ebenso wie eine zu starke medikamentöse Entwässerungstherapie, die Diurese. Mit der Flüssigkeitsausscheidung erhöht sich in beiden Fällen auch der arterielle und venöse Hämatokrit, meist mit einer hohen Differenz zugunsten des venösen Wertes (V-K-Wert + 3 % und mehr). Somit kommt es zu einer Pseudopolyglobulie, die tatsächlich auf Flüssigkeitsmangel und nicht auf einer Vermehrung der Erythrozyten beruht.
Nach einer strikt befolgten Alkoholkarenz zeigte sich innerhalb von vier Monaten eine deutliche Besserung der Hämatokritwerte
auf 46,2 % arteriell und 48,5 % venös. Weitere zwei Monate später waren die Werte auf arteriell 45,4 % und venös 45,2 % gefallen. Auch die Herzrhythmusstörungen und die arterielle Hypertonie hatten sich durch die Alkoholkarenz gebessert.
Die Umkehrung der Differenz beruhte auf einer Herzleistungsschwäche durch einen aktuell vorliegenden Infekt. Nach weiteren vier Monaten ohne Alkoholkarenz kam es zu einer erneuten Erhöhung des Hämatokrits auf arteriell 51,3 % und venös 51,6 %.
Sekundäre Polyglobulie durch dritte Niere
Bei einer Patientin, 65 Jahre, zeigten sich im Rahmen einer Routineuntersuchung leicht erhöhte Hämatokritwerte von 46,9 % arteriell und 47,4 % venös. Die Patientin berichtete über Ohrgeräusche und einen spürbaren Herzschlag. Die Abdomensonografie zeigte eine dritte Niere. Vermutlich kann diese durch eine erhöhte Erythropoetinproduktion eine leichte sekundäre Polyglobulie auslösen. Durch eine kalkulierte Therapie mit kleinen Aderlässen von 50–60 ml alle zwei Wochen sank der Hämatokrit auf Werte unter 45 %. Die Symptomatik verbesserte sich in diesem Zuge deutlich.
V-K-Wert entlarvt Stress hinter Schein-Polyglobulie
Patientin, 71, stellte sich im Rahmen von regelmäßigen Routinekontrollen in der Praxis vor. Im Vorfeld waren bei ihr nie hohe Hämatokritdifferenzen aufgefallen. In der
Untersuchung zeigte sich jedoch ein venöser Hämatokrit von 49,0 %, der für sich stehend den Verdacht auf eine Polyglobulie begründen würde. Der Vergleich mit dem arteriellen Hämatokrit lieferte allerdings einen überraschenden Befund: Dieser lag bei 43,0 %, also 6,0 % (V-K-Wert) unter dem venösen Wert. Ein Messfehler war durch Sechsfachbestimmung und manuelles Able- sen der Werte ausgeschlossen.
Wie war dies zu erklären? In der Folge von starken rheumatischen Schmerzen war es zu einer vegetativen Daueranspannung gekommen, die über einer erhöhte Nieren- aktivität zu einer vorübergehenden venösen Konzentrierung geführt hatte. Ein Anti-CCP- Antikörpernachweis und positiver Rheumafaktor erhärteten den Verdacht auf eine rheumatoide Arthritis. In der Folge rieten wir zur Vorstellung bei einem Rheumatologen. Nach rheumatologischer Therapie mit Rückgang der Schmerzen und damit auch der Anspannung kam es im Verlauf von zwei Wochen bereits zu einer Reduktion des V-K-Wertes auf 4,9 %. Nach weiteren zwei Wochen war die Differenz auf 2,7 % reduziert. Der arterielle Hämatokrit lag nun bei 41,1 %, der venöse Wert bei 43,7 %. Somit bestand nur noch eine geringe Restanspan- nung. Der Hämatokrit lag nun im Normbereich. Der anfängliche Anschein einer Poly- globulie hatte getäuscht.
Autoren: Fabian Hain, Ann-Christin Hain
Quelle: http://dx.doi.org/10.1055/a-1064-6982
Aus „Deutsche Heilpraktiker Zeitschrift“ 01/2020.